"Alles, wirklich alles spricht dagegen, dass ich zu sprechen beginne. Denn meine Welt und alles, was sich in ihr befindet, wendet sich gegen mich, seitdem ich mit dem tief in mich eingeschriebenem Sprechverbot und dessen Logik brechen will. Nicht mehr nur dabei zusehen will, wie alles, was ich einst war und immer noch bin, weniger wird. Sich auflöst und zersetzt.
Aber alles läuft falsch, verrückt sich, wird brüchig und bekommt Risse, sobald ich das Unaussprechliche zum Sprechen bringen will. Einen Ausdruck und eine Form finden will für das, was sich wirklich auf meiner inneren Landkarte befindet und sich in unendlichen Wiederholungsschleifen in meinen Gedanken artikuliert.
Und dieses Ereignis, dieses Zersetzen von Welt, tritt unabhängig davon ein, an welchem Ort ich mit dem Sprechen beginnen will. Ob hier, in der Schrift, oder draußen im wirklichen Leben. Immer und überall zerfasert das, was ich in Worte zu fassen versuche, in so winzige Bruchstücke, dass sich alles nur noch entzieht und vor meinen Augen verschwimmt. Es so flüssig und fließend wird, dass ich nicht mehr in der Lage bin, die Materie aus Gedanken, Eindrücken und Empfindungen in eine feste Form zu gießen."
"Seitdem ich neun Jahre alt bin, fordere ich das Schicksal heraus. Wenn ich zum Beispiel den Gehweg entlanglaufe, darf ich nicht einfach einen Fuß vor den anderen setzen, wie es wahrscheinlich die meisten tun, sondern erlaube mir nur, auf die Pflastersteine selbst zu treten. Wenn ich nicht achtgebe und mein Fuß doch eine Ritze zwischen den Steinen berührt, dann, so die Regel, bin ich mit schuld, wenn es ihr wieder schlechter geht. Wenn ich damals, wir waren noch klein, auf dem Schulweg bis zum Schultor keine einzige Spalte zwischen den Steinen berührte, würde sie alt werden. Sehr alt. So alt wie wir anderen Menschen, denn dass sie besonders früh sterben könnte, verstand ich schon früh. Zu früh!
Auch heute noch begehre ich mit meinem selbsterdachten Schicksalsspiel gegen den Lauf der Dinge auf. Wenn ich zur Haustür hineingehe und die Tür hinter mir ins Schloss fällt, bevor ich den ersten Treppenabsatz erreiche, dann wird sie nicht mehr lange leben. Wenn ich aber am zweiten Treppenabsatz angelange, bevor sich die Tür mit einem lauten Geräusch schließt, werden wir gleichalt werden. Und wenn ich an einem roten Auto vorbeikomme, dann muss ich von dem Augenblick an, in dem ich es sehe, bis ich an ihm vorbeigelaufen bin, die Luft anhalten. Schaffe ich es nicht, weil beispielsweise die Entfernung zwischen dem Moment, in dem ich das Auto erblicke, und dem, in dem ich es erreiche, zu groß ist, darf ich am kommenden Morgen keinen Kaffee trinken, auch wenn ich noch so große Lust darauf habe und sich meine Kopfschmerzen langsam in ein schmerzliches Stechen verwandeln. Wenn ich an einer Häuserwand aus Backstein vorbeigehe, muss ich zählen, wie viele Steine man nebeneinander verlegt hat, während ich mit dem Zeigefinger über die Wand streiche. Und wenn ich mich verzähle, bin ich schuld daran, wenn sie Fieber bekommt. Und immer, wenn sie im Krankenhaus ist und in einem fremden Bett mit einem Infusionsständer neben sich schlafen muss, ist es meine Schuld, weil es mir wieder nicht gelungen war, durch das Essen von Bananen, die ich verabscheue, das Fieber von ihr fernzuhalten."
"Ich sehe einer Möwe dabei zu, wie sie einen weißen Schnitt in den Himmel hineintreibt. Dort, wo ich lebe, gibt es eine solche Weite nicht, in die man sich hineinlehnen kann, um sich anschließend in ihr auszubreiten. Dort, wo alles Asphalt, Enge zwischen Häuserwänden ist, und es lebendige Natur einzig in ihrer kultivierten Form gibt. Hier hingegen kann ich mich in mich selbst hineinfließen lassen, während ich auf das Meer hinausblicke, das sich immer wieder neu auseinanderfaltet.
Ich schaue zu Minou hinüber, die in ihrem schwarzen Badeanzug neben mir in einem der beiden Liegestühle liegt; will sichergehen, dass sich keine Kippbewegung in Richtung Verschlechterung vollzieht, und es ist ihr bestimmender Blick, mit dem sie sich fest, ganz fest in ihre Umwelt hineinbegibt, und der auf mich wirkt, als müsse sie der äußeren Welt eine Gesetztheit, eine Unbedingtheit auferlegen, die das Leben so nicht für sie bereithält, und die es auch in ihr nicht gibt, der mir sagte, dass wir uns, auch wenn immer alles ganz schnell wieder ganz anders sein kann, für heute keine Sorgen machen mussten. Wir uns für den heutigen Tag in Sicherheit wiegen konnten."
"Wir hatten uns vorgestellt, dass hier die Grenze zum Ende der Welt war. Dort, wo das Wasser den Horizont berührte, sie aufhören würde, die Welt. Dort, an der Schnittstelle zwischen Meer und Himmel, an der Linie zwischen blau und blau.
Vielleicht, weil hier alles so stilleinsam und ruhig war, und jedes Geräusch verschluckt wurde, von der Stille, die alles in sich aufnahm, so wie die Muschel die Geräusche des Windes, des Meeres in sich aufnahm und an unser Ohr trägt, wenn wir es, ganz nah, an die Windung halten.
An diesen Spätsommertagen, an denen der Wind so still und die Luft so heiß gewesen waren, und die kleinen zitternden Wellen auf dem Wasser silberweiß flirrten. Als die Sonne so sengend heiß am Firmament gestanden hatte, dass man sich an ihrem hellgrellen Licht die Augen versengte, wie ein Haar in dem Feuer einer Kerze, das sich schwarzkräuselnd zusammenzurrte."
"Auch wenn ich mich weder an Minous noch an mein eigenes zur-Welt-Kommen erinnere, will ich sie suchen: all die Bilder und Narrative, die mir aus jener Zeit vorhanden sind. Will sie ausgraben, wie einen halb im Schlamm versunkenen und von Muscheln bedeckten Stein, um sie in meinen Händen zu halten und sanft zu umschließen. Mit meinen Fingerkuppen will ich ihren Einkerbungen nachspüren, ganz behutsam, die die Gezeiten in sie eingraviert haben. Ob sie mir ihre innigsten Geheimnisse verraten?
So oder so muss ich es ausprobieren; will herausfinden, welche Bruchstücke ich von Minous und meiner Geburt zusammentragen kann. Schon zu lange haben diese Erinnerungsfragmente eine allzu große Macht auf mich ausgeübt; zu sehr ziehen mich die Szenen und Bilder, die mich aus jener Zeit verfolgen, mit in eine Dunkelheit hinein, die bisweilen so unheimlich ist, dass alle Worte von mir abfallen und ich nur noch ein von Angst durchsetzter Körper bin.
Auch, wenn ich weiß, dass Erinnerungen für die Wahrheit wie Treibsand sind – bewegliche Fragmente, die die Gegenwart verdreht: Das, was ich von jener Zeit im Gedächtnis behalten habe, hat seine Spuren hinterlassen und wühlt mich immer noch so sehr auf, als würde ich das, was damals geschah, mit jeder Erinnerung erneut durchleben. Wieder das Neugeborene, das kleine Kind werden, das ich einst gewesen bin."
Auszüge aus Romanprojekt "Minou oder Das Denken in Metaphern"
"Es war das erste Mal, dass sie ihr Durchschreiten für jemand anderen öffnete, und dass es dann auch noch für ihn war, erschien ihr im Nachhinein gleichermaßen logisch wie sonderbar, da es ihr Ritual der Zuflucht, des inneren Rückzugs war. [...] Zwei Linien auf einer Brücke, die sich an einem anderen Ort treffen; nicht hier, nicht jetzt, sondern irgendwo jenseits, hinter dem, was ist, weil sie für das, was sie sich alles hätten sagen müssen, wollen, sollten, keine Wörter, keine Sprache finden."
Auszüge aus Anthologie-Beitrag "Minou und das purpurne Licht", in "Risse und Welt", hrsg. von Kurt Drawert