"Eigentlich rauche ich nicht. Nicht mehr jedenfalls. Oder sagen wir, nicht mehr so oft wie früher. Aber ab und zu überkommt mich die Lust und ich gehe zum Kiosk, um mir Drehzeug zu besorgen. So auch gestern Abend.
Ich zog ein Blättchen heraus und legte einen Filter hinein, bevor ich die entstandene Kuhle mit Tabak befüllte. Langsam drehte ich das Papier zwischen meinen Fingern und leckte mit meiner Zungenspitze leicht über den Rand, um danach das dünne Papier einzufalten und zu einer Zigarette zusammenzurollen.
Ich zündete sie an, inhalierte tief und schaute in den Hinterhof des Hauses, in dem wir wohnen, mit seinen Balkonen und heruntergekommenen Fassaden. Unten, in dem kleinen Pavillon aus Glas, hatten sie eine Lichtgirlande aufgehängt. Die Welt war mystisch in diesen dunklen Abendstunden. Aber schnell war es wie früher: So sehr mir auch die Vorstellung von einer Zigarette gefiel, gelang es mir auch dieses Mal schon beim dritten Zug nicht mehr, die Zigarette wirklich zu genießen. Nicht nur, dass mich der Geschmack abzustoßen begann und mir das Kratzen im Hals den Genuss verwehrte. Auch musste ich, was mir schon lange nicht mehr passiert war, an Minou und mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber denken. Führte ich nicht, an einem Klimmstängel ziehend, die Lungenkrankheit meiner Schwester gewissermaßen selbst herbei?
Schon immer hatte das Rauchen auf perfide Weise auch etwas Beruhigendes für mich. So als ob das Ziehen an einer Zigarette das Ungleichgewicht zwischen meiner Schwester und mir ausgleichen könnte. Die Logik? Wenn ich schon nicht bewirken konnte, dass es ihr besserging, konnte ich wenigstens dafür sorgen, dass es mir selbst schlechter ging. Und dafür war Rauchen das effektivste Mittel, da es genau dort ansetzte, wo wir uns am deutlichsten voneinander unterschieden. Natürlich waren wir auch sonst sehr verschieden. Ich eher von meinen Gefühlen bestimmt, meine Schwester eher vom Vernunftprinzip. Aber das, was ich nie würden umkehren können, ist, dass Minou krank und ich gesund geboren wurde.
Mittlerweile glaube ich, dass es nichts auszugleichen gibt. Aber damals musste ich einfach daran glauben. Mir einreden, dass ich sie retten könnte, wenn ich mich entscheide, diese eine Zigarette nicht zu rauchen.
Vor rund sechs Jahren hatte tatsächlich etwas auf meine innere Revolte reagiert. Wahrscheinlich nicht, weil ich die eine Zigarette nicht geraucht habe. Wahrscheinlich eher, weil uns die Wirklichkeit zeigen wollte, dass sie mit ihrer Fantasie unsere Vorstellungskräfte maßlos übersteigt. Es gab da diese Studie aus den USA, die direkt an dem Gendefekt ansetzte und auf die Mutation meiner Schwester abzielte.
Die Studie begann und wir fragten uns, ob Minou in der Gruppe mit den Placebos oder dem echten Medikament war. Doch schon nach ein paar Tagen war klar: Sie bekam die richtigen Medikamente. Früh am Morgen rief sie mich an und erzählte mir, dass sie nachts davon aufgewacht sei, dass flüssiger Schleim aus Mund und Nase gelaufen war. Sie habe sich fast daran verschluckt. So viel war es gewesen.
Als ich Minou kurz darauf in Berlin besuchte, zeigte sie mir ihren Lieblingsplatz im Hinterhof einer kleinen Kaffeerösterei. Sie trank eine Cappuccino und ich eine Tasse schwarzen Filterkaffee. Sie erzählte mir von einem Streit mit einer Freundin. Wollte meine Meinung wissen, als mir plötzlich auffiel, dass etwas grundlegend anders war. Irgendwie ruhiger, gleichmäßiger. Irritierend anders, doch es brauchte eine Weile, bis ich darauf kam. Der Husten fehlte! Der Husten, nach dem sich auf der Straße, in der U-Bahn oder im Kino immer alle nach uns umdrehten und erstaunt waren, dass da eine junge Frau und kein alter rauchender Mann war. Ein Husten, der manchmal ein regelrechtes Brodeln war, wenn sich mal wieder besonders viel Schleim in ihrer Lunge angesammelt hatte.
Ich sprach meine Schwester darauf an und es stimmte. Sie musste wirklich kaum noch husten, seitdem sie das neue Medikament einnahm. Und inhalieren musste sie auch nicht mehr.
Seit diesem Tag im Café begann sich die Dynamik zwischen uns zu verändern. Es war erstaunlich: In dem Maße, in dem ihr Körper durch das neue Medikament gesünder wurde, wurden auch meine Ängste weniger. Die Nächte wurden länger, weil mich der Schlaf wiederfand. Ich konnte wieder aus dem Zimmer gehen, ohne mein Telefon überallhin mitzunehmen, weil ich nicht jeden Moment heimlich eine Hiobsbotschaft erwartete. Wenn ich bei ihr war und neben ihr im Bett lag, musste ich nicht wachbleiben, um nachzusehen, ob ihre Brust sich auch weiterhin hob und wieder senkte. Mit der Zeit fand ich in eine Kraft, die ich sehr lange nicht mehr verspürte."
"Ich sehe einer Möwe dabei zu, wie sie einen weißen Schnitt in den Himmel hineintreibt. Dort, wo ich lebe, gibt es eine solche Weite nicht, in die man sich hineinlehnen kann, um sich anschließend in ihr auszubreiten. Dort, wo alles Asphalt, Enge zwischen Häuserwänden ist. Hier hingegen kann ich mich in mich hineinfließen lassen, während ich auf das Meer hinausblicke, das sich immer wieder neu auseinanderfaltet.
Ich schaue zu Minou, die in ihrem schwarzen Badeanzug neben mir im Liegestuhl liegt; will sichergehen, dass es ihr gut geht, und es ist ihr bestimmender Blick, der mir sagt, dass ich mir für heute keine Sorgen machen muss. Ich mich in Sicherheit wiegen kann."
Auszüge aus Romanprojekt "Auf der Nachtseite des Lebens"
"Es war das erste Mal, dass sie ihr Durchschreiten für jemand anderen öffnete, und dass es dann auch noch für ihn war, erschien ihr im Nachhinein gleichermaßen logisch wie sonderbar, da es ihr Ritual der Zuflucht, des inneren Rückzugs war. [...] Zwei Linien auf einer Brücke, die sich an einem anderen Ort treffen; nicht hier, nicht jetzt, sondern irgendwo jenseits, hinter dem, was ist, weil sie für das, was sie sich alles hätten sagen müssen, wollen, sollten, keine Wörter, keine Sprache finden."
Auszüge aus Anthologie-Beitrag "Minou und das purpurne Licht", in "Risse und Welt", hrsg. von Kurt Drawer