"Eigentlich rauche ich nicht. Nicht mehr jedenfalls. Oder sagen wir, nicht mehr so oft wie früher. Aber ab und zu überkommt mich die Lust und ich gehe zum Kiosk, um mir Drehzeug zu besorgen. So auch gestern Abend.
Ich drehte mir eine Zigarette, zündete sie an und zog den Rauch in meine Lungen. Die Welt war mystisch in diesen dunklen Abendstunden. Aber schnell war es wie immer: So sehr mir auch die Vorstellung von einer Zigarette gefiel, gelang es mir auch dieses Mal schon beim dritten Zug nicht mehr, die Zigarette wirklich zu genießen. Nicht nur, dass mich der Geschmack abzustoßen begann und mir das Kratzen im Hals den Genuss verwehrte. Auch musste ich an Minou und mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber denken. Führte ich nicht, an einem Klimmstängel ziehend, ihre Krankheit gewissermaßen selbst herbei?
Schon immer hatte das Rauchen auf perfide Weise auch etwas Beruhigendes für mich. So als ob das Ziehen an einer Zigarette das Ungleichgewicht zwischen meiner Schwester und mir ausgleichen könnte. Die Logik? Wenn ich schon nicht bewirken konnte, dass es ihr besserging, konnte ich wenigstens dafür sorgen, dass es mir schlechter ging. Und dafür war Rauchen das effektivste Mittel, da es genau dort ansetzte, wo wir uns am deutlichsten voneinander unterschieden. Natürlich waren wir auch sonst sehr verschieden. Ich eher von meinen Gefühlen bestimmt, meine Schwester eher vom Vernunftprinzip. Aber das, was ich nie würde umkehren können, ist, dass sie krank und ich gesund geboren wurde.
Vor rund sechs Jahren hatte tatsächlich etwas auf meine innere Revolte reagiert. Jedenfalls dachte ich das damals. Mittlerweile bin ich mir über solche Zusammenhänge nicht mehr so sicher. Wahrscheinlich lag es eher daran, dass uns die Wirklichkeit zeigen wollte, dass sie mit ihrer Fantasie unsere Vorstellungskraft maßlos übersteigt. Es gab da diese Studie aus den USA, an der meine Schwester teilnehmen konnte, da ihre Lungenfunktion ganz knapp die 40 Prozent Marke überschritt, und die direkt an dem Kanaldefekt ansetzte und auf ihre Mutation abzielte.
Die Studie begann und wir fragten uns, ob Minou in der Gruppe mit den Placebos oder der mit den echten Medikament war. Doch schon nach ein paar Tagen war klar: Sie bekam die richtigen Medikamente. Früh am Morgen rief sie mich an und erzählte, dass sie nachts davon aufgewacht war, dass flüssig gewordener Schleim aus Mund und Nase lief. Fast hätte sie sich daran verschluckt, so viel sei es gewesen.
Ich war in dieser Zeit mit Louis in Italien im Urlaub, und als ich wieder zurück war, gingen wir in eine kleine, gemütlich eingerichtete Kaffeerösterei, die gerade neu aufgemacht hatte.
Wir setzten uns in den Hinterhof an einen Tisch rechts hinten in der Ecke. Meine Schwester bestellte einen Cappuccino und ich eine Tasse Filterkaffee aus Mexiko. Dann begann sie mir von einem Streit mit einer Freundin zu erzählen. Wollte meine Meinung wissen, als mir plötzlich auffiel, dass etwas grundlegend anders war. Irgendwie ruhiger, gleichmäßiger als sonst. Doch es brauchte eine Weile, bis ich darauf kam: Der Husten fehlte! Der, nach dem sich häufig Leute zu uns umdrehten und erstaunt waren, dass da eine junge Frau und kein alter rauchender Mann war. Ein Husten, der manchmal ein regelrechtes Brodeln war, wenn sich mal wieder besonders viel Schleim in ihrer Lunge angesammelt hatte.
Ich sprach meine Schwester darauf an und es stimmte. Sie musste wirklich kaum noch husten, seitdem sie das neue Medikament einnahm. Und inhalieren muss ich auch nicht mehr!
Seit diesem Tag im Café begann sich die Dynamik zwischen uns zu verändern. In dem Maße, in dem sie durch das neue Medikament gesünder wurde, wurden meine Ängste weniger. Die Nächte wurden länger und ich konnte wieder aus dem Zimmer gehen, ohne mein Telefon überallhin mitzunehmen. Wenn ich bei ihr war und neben ihr im Bett lag, musste ich nicht wachbleiben, um nachzusehen, ob ihre Brust sich auch weiterhin hob und senkte. Mit der Zeit fand ich in eine Kraft, die ich sehr lange nicht mehr verspürt hatte."
"Ich war um die zwanzig Jahre alt und saß auf dem Balkon eines Hotels an der Küste Gran Canarias, Einzelklimakur für Minou samt Begleitperson, und ließ meinen Blick über die grünblaue Fläche des Meeres gleiten. In der Ferne lehnten sich mir die Wellen wie aufbrechende und sich wieder schließende Austern entgegen. Offenbarten ihr Innerstes, um dieses Zeigen dann doch wieder scheu zurückzunehmen. Dann wieder rollten die Wellen im milchigen Licht langsamer der Landmasse entgegen. So als hätte eine Kraft hinter dem Horizont entschieden, dass vorher alles zu schnell gegangen sei und es sich in fließenderen Bewegungen abspielen solle.
Ich sah einer Möwe dabei zu, wie sie einen weißen Schnitt in den Himmel hineintrieb. Dort, wo ich lebte, gab es eine solche Weite nicht, in die man sich hineinlehnen konnte, um sich anschließend in ihr auszubreiten. Dort, wo alles Asphalt, Enge zwischen Häuserwänden war. Hier hingegen konnte ich mich in mich selbst hineinfließen lassen, während ich auf das Meer hinausblickte, das sich immer wieder neu auseinanderfaltete.
Ich schaute zu Minou, die in ihrem schwarzen Badeanzug neben mir im Liegestuhl lag; wollte sichergehen, dass es ihr gut ging, und es war ihr bestimmender Blick, der mir sagte, dass ich mir für heute keine Sorgen machen musste. Wir uns in Sicherheit wiegen konnten.
Die Illusion eines kontinuierlichen Immer-weiter-und-weiter-Fließens, das die Stunden in Tage und die Tage in Jahre verwandelt, dieses Gefühl, dass Morgen und Übermorgen ein ganz ähnlicher Tag wie der heutige sein würde, ist für uns etwas, das nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Denn immer schon lauert das nächste Stechen in ihrer Brust. Ein Druck, der wieder vergehen, aber vielleicht auch zu einer Entzündung ihrer Lungenflügel heranschwellen würde. Flügel, die wie die eines Insekts nach einem Flug durch den Regen zusammenkleben und darauf warten, sich wieder öffnen zu können.
Ich dachte darüber nach, was wäre, wenn es ihr wie der jungen Frau während der Klimakur im Jahr zuvor ergehen würde, der es plötzlich enger und enger um den Brustkorb wurde, und deren Husten zu einem gefährlichen Röcheln angeschwollen war. Mit dem Hubschrauber wurde sie aufs Festland geflogen, da das Inselkrankenhaus für Fälle wie sie nicht ausgestattet war. Und woran sollte ich merken, dass es sich nicht nur um einen grippalen Infekt handeln würde, den Minou einfach ausschwitzen und den man mit noch stärkeren Antibiotikatabletten bekämpfen konnte, sondern ich mit ihr ins Krankenhaus musste?
Ich wusste nicht, ob ich all dem standhalten konnte. Ob ich für Minou, wenn es nötig wäre, einen Weg aus ineinandergeflochtenen Wurzeln bauen könnte, auf dem sie ihre Schritte setzen und aus der Fieberhölle wieder herauskommen würde.
Während die Sonne langsam ins Meer hinabsank, fragte ich mich, Minou war neben mir im Liegestuhl eingeschlafen, ob das Meer wabert und webt, oder wabern und weben Worte waren, die ein Eigenleben führten, ohne auf etwas Wirkliches, wie das Meer, bezogen zu sein. Waren dies Worte, die vom Meer selbst ausgingen, oder solche, die ich in das Meer hineingab? In es einpflanzte? Und konnte es überhaupt so etwas geben? Worte, die aus dem Meer, von den Dingen selbst herkamen?"
Auszüge aus Romanprojekt "Die gesunde Schwester"
"Noch vor einem Jahr wäre es undenkbar gewesen. Allein in einen Vorort zu ziehen, der für die meisten nur ein Schriftzug auf einem Autobahnschild ist. Eine halbe Stunde mit dem Fahrrad vom Stadtzentrum entfernt zu wohnen. Statt Cappuccino mit Farnblatt- oder Tulpenmuster schwachgebrühten Filterkaffee in einer kleinen Bäckerei zu trinken, serviert auf einem Kunststofftablett, dazu die obligatorische Papierserviette. Sich mit Jacke, der Durchzug, wenn ein neuer Kunde reinkommt, auf eine Sitzbank mit orangefarbenem Kunststoffbezug zu setzen, die knarzt, wenn man sich bewegt, anstatt an einen kleinen Holztisch in einem minimalistisch eingerichteten Café.
Nimmt man die entsprechende Autobahnausfahrt, fährt man zunächst durch eine Gegend, die wie ausgestorben wirkt. Verfallene Häuser, heruntergelassene Rollläden, Graffiti an den Wänden. Seitenarme einer Stadt, die im Niemandsland münden würden, gäbe es die Autobahn nicht. Und dann, direkt am Rheinufer, neben der Zufahrtstraße zur Innenstadt, die grauen Betonmassen der Zementfabrik.
Fährt man weiter, liegt, für den Autofahrer unsichtbar, linke Hand den Berg hinauf, ein zwischen Flug- und Autobahnlärm eingekesseltes Wohngebiet. Mainz-Weisenau.
Das Gebiet, in dem ich seit Sommer letzten Jahres lebe, das einst ein eigenständiges Dorf gewesen war, liegt auf Hügeln, und sein Nullpunkt ist der Rhein, von dem aus es mal steiler, mal weniger steil nach oben geht. Bis auf wenige neue Straßen wie die Durchfahrtstraße, die in der Autobahnauffahrt mündet, sind es schmale Gassen, die die Häuser voneinander trennen, und manchmal sind die Bordsteine so schmal, dass man auf die Straße ausweichen muss, wenn jemand entgegenkommt. Und wenn man sein Fahrrad den Anstieg hinaufschiebt, während ein Auto hinunterfahren will, muss einer von beiden anhalten und warten, bis der andere vorüber ist.
Zwischen Industrie- und Wohngebiet ist eine römische Straße rekonstruiert, entlang derer bis ins vierte Jahrhundert Begräbnisstätten errichtet wurden. In einem Freilichtmuseum sind Töpferöfen und Grabfunde ausgestellt.
Im dritten und vierten Jahrhundert lagen die Töpfereien mit der angeschlossenen Siedlung oben auf der Ebene über dem Rhein, während unten, direkt am Flussufer, langsam ein Dorf heranwuchs, dessen Einwohner entweder als Fischer, Schiffer, Lotsen, Ferger direkt von und mit dem Rhein lebten, oder als Bauern und Winzer das Land oberhalb des Dorfes bewirtschafteten."
Auszug aus Romanprojekt "alles, was möglich ist"
"Vor einigen Monaten las ich Was das Leben kostet von Deborah Levy, den zweiten Band ihrer living autobiography. Ein Buch, das mich aufgrund seiner schlicht daherkommenden Tiefe nachhaltig beeindruckte.
Einige Wochen später, als ich mit meiner Tante in ihrem alten Kombi auf dem Weg zum Wispertrail war, wurde eine Episode im Buch zu einer Vorausahnung für mich. Etwas, das mir nicht zum ersten Mal geschah – jedes Mal ausgelöst durch einen Text, den ich las, oder einen Traum, der mich aufschrecken und verloren in der Dunkelheit zurückließ. Die Weise, in der diese in Worte gehüllte Vision nun in meinem Alltag durchschien, war jedoch unbekannt und neu für mich."
Auszug aus Romanprojekt "Verlorene Landmarken"
"Es war das erste Mal, dass sie ihr Durchschreiten für jemand anderen öffnete, und dass es dann auch noch für ihn war, erschien ihr im Nachhinein gleichermaßen logisch wie sonderbar, da es ihr Ritual der Zuflucht, des inneren Rückzugs war. [...] Zwei Linien auf einer Brücke, die sich an einem anderen Ort treffen; nicht hier, nicht jetzt, sondern irgendwo jenseits, hinter dem, was ist, weil sie für das, was sie sich alles hätten sagen müssen, wollen, sollten, keine Wörter, keine Sprache finden."
Auszüge aus Anthologie-Beitrag "Minou und das purpurne Licht", in "Risse und Welt", hrsg. von Kurt Drawert
Jana Fuchs
Derzeit in den Endzügen des Romans Auf der Nachtseite des Lebens und Arbeit an einem Roman mit dem Arbeitstitel alles, was möglich ist. Dieser erzählt von der Rückkehr der Wildnis, von Geländebegehungen, den Konsequenzen und Auswirkungen eines ungeteilten Kinderwunsches sowie eine Fehlgeburt.
Außerdem arbeite ich an einem Projekt auf der Schnittstelle zwischen Essayband und Roman mit dem Arbeitstitel Verlorene Landmarken.