Daten und Poesie

Lesung im Rahmen der Veranstaltung "Daten.Über.Schreiben. Poesie im digitalen Zeitalter", 4. Dezember 2024 im Literaturhaus Darmstadt 

 

Ihrem Roman Im Menschen muss alles herrlich sein stellt Sasha Marianna Salzmann folgende Worte voran: Jede erfundene Geschichte handelt von einer wahren Begebenheit. Und um glaubwürdig zu sein, muss ich falsch liegen. Das mag vielleicht zunächst paradox klingen: Erfundenes, das eine Wahrheit transportiert. Glaubwürdigkeit, die sich gerade aus dem so nicht Geschehenen speist. Aber: Es gibt eine dichterische, eine genuin poetische Wahrheit. Eine Wahrheit, die nicht dadurch entsteht, dass etwas deckungsgleich ist mit dem, wie etwas wirklich geschehen ist, sondern die im Mythos verankert ist. In übergreifenden Erzählungen über die Entstehung und Gestalt der Welt oder des Menschen. Homers Ilias und Odyssee etwa, Platons Mythos von den Kugelmenschen, oder Hesiods Theogonie

In der Literatur sind die Einzelschicksale allgemeingültig. Transzendieren sich selbst, erzählen vom Menschsein als solchem. In den erzählten Schicksalen teilt sich etwas mit, das sich nur durch das dichterische Wort mitteilen und in keiner anderen Form zum Sprechen gebracht werden kann. Und zwar auch dann, wenn sich die Dichtung widerspenstig zur narrativen Struktur verhält.  

Ganz anders Daten. Während die Literatur die Aufmerksamkeit in einer Sprache der Eindringlichkeit auf die Einzelschicksale lenkt, bilden Daten etwa den Umfang des Grauens eines Verbrechens ab, wie die Anzahl der bei einem Unglück zu Tode gekommenen Menschen. Sie formen Algorithmen der Wahrscheinlichkeit, bilden Datensätze von immensem Umfang, Big Data, aber eines tun sie nicht: erzählen. 

Während der digitale Speicher additiv und kumulativ arbeitet, sind das menschliche Gedächtnis, und mit ihm die Erinnerung, sowie die Vorstellungskraft narrativ.[1] Narrationen betten den Menschen in Sinnstrukturen ein. Umspannen ihn mit Erzählungen über sich selbst, die Welt und das Menschsein. In einer Welt, die von Datensätzen bestimmt ist, droht der Mensch aus seinem eingebettet-Sein in narrative Strukturen und somit auch aus seinem Sinnhorizont herauszufallen.  

Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han schreibt in Die Krise der Narration Folgendes: »Digitale Plattformen wie Twitter, Facebook, Instagram, TikTok oder Snapchat sind am Nullpunkt der Erzählung angesiedelt. Sie sind kein Erzähl-, sondern ein Informationsmedium. Sie arbeiten additiv und nicht narrativ. Die aneinandergereihten Informationen verdichten sich nicht zur Erzählung. Auf die Frage »Wie erstelle oder bearbeite ich ein Lebensereignis in meinem Facebook-Profil?« erhält man als Antwort: »Klicke auf Info und dann im linken Menü auf Lebensereignisse.« Ereignisse des Lebens werden als bloße Informationen behandelt. Aus ihnen wird keine Erzählung gewebt. Sie werden ohne jeden narrativen Zusammenhang syndetisch aneinandergereiht. Nie wird eine narrative Synthese von Ereignissen vorgenommen. Auf digitalen Plattformen ist eine reflexiv-narrative Verarbeitung und Verdichtung des Gelebten gar nicht möglich und auch nicht erwünscht. Schon das technische Dispositiv der digitalen Plattformen lässt keine zeitintensive, narrative Praxis zu.«[2]  

Nach Han ist der Wahrheit eine ganz andere Zeitlichkeit als der Information, den Daten, inne. Denn die Wahrheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie beständig, also von Dauer ist. Das ist auch der Grund, weshalb sie, wie Erzählungen, stabilisierend auf das Leben und das Sein einwirkt. Aber in der digitalen Ordnung wird die Wahrheit von der Flüchtigkeit der Information abgelöst. Daher ist für Han die Epoche der Wahrheit mit der Datengesellschaft zu ihrem Ende gekommen:[3] »Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird.«[4] 

Aber die dichterische Wahrheit ist keineswegs verstummt. Sie widersetzt sich, so gut sie kann. Sammelt den Informationsstaub ein, sucht in ihm nach Worten, die Gültigkeit haben werden. Noch in einem Jahrzehnt, einem nächsten Jahrhundert. 

Die Dichter werden die Wörter hinüberretten in eine Welt, in der sie mehr sind als beliebig austauschbares Datenmaterial in Exceltabellen oder Informationseinheiten, die sich aufgrund der Wahrscheinlichkeit des nächsten Wortes zu Sätzen formen. Auf die Zungen der Menschen werden sie die Buchstaben legen. Sie erschmecken lassen, ob es ein W, ein E, ein L, ein T ist, das sich in ihren Mündern befindet. Die Dichter werden der weltlosgewordenen Sprache wieder Leben einhauchen und gegen das Sprachzersetzen anschreiben. Sie werden die Wörter frei fließen lassen, bis sie das Gefühl haben, ganz von Buchstaben, Wörtern, Sätzen umhüllt zu sein. 


[1] Vgl. Byung-Chul Han: Die Krise der Narration. Matthes & Seitz Berlin 2023, S. 39-40. 
[2] Han (2023), S. 38-39.
[3] Byung-Chul Han: Infokratie. Matthes & Seitz. Berlin 2021, S. 83-84.
[4] Han (2021), S. 84.