Das Interview

Der Autor Manlio Argueta (El Salvador) im Gespräch 

Die Übersetzerin Jana Fuchs und der Theaterschauspieler- und regisseur sowie Verfasser von Kurzprosa Miguel Parada sprechen mit dem mittelamerikanischen Schriftsteller über seinen Roman Widerstand der Dichter (Septime Verlag)

»Wir wissen, dass es eine offizielle Geschichte gibt, die manchmal symbolisch ist, die aber die Opfer vergisst und ihre Helden erschafft. Und die Helden sind die, die die Macht innehaben. Die Opfer, die Bürger, haben nie die Macht. Sie sind die Anti-Helden.« 

In Widerstand der Dichter legt Manlio Argueta mit bissig schwarzem Humor literarisch Zeugnis von der Generación Comprometida ab. Diese engagierte Generation war eine Gruppe von Schriftstellern, Intellektuellen und Studenten in El Salvador, die als »das schlechte Gewissen der salvadorianischen Gesellschaft« fungierte, wie es einer ihrer Mitglieder, der Autor José Roberto Cea, 1969 in einem Artikel in der Zeitschrift La Pájara Pinta, »Die Eigensinnigen« formulierte. Der Generación Comprometida gehörten unter anderem Argueta selbst, der international bekannte Dichter Roque Dalton sowie Miguel Paradas Vater an, der ehemalige Direktor der Universidad de El Salvador, Miguel Ángel Parada. 

Miguel Parada: Wie schaffst du es, in der Gegenwart zu leben und in dieser präsent zu sein, nachdem so viele Menschen, die du gekannt hast, heute nicht mehr am Leben sind? 

Manlio Argueta: Meine Stimme spricht für die, die nicht mehr unter uns sind. Natürlich sind die Romanfiguren nicht identisch mit den realen Personen. Am Anfang des Romans sage ich, dass wir eine einzige Münze mit drei Gesichtern sind. Es gibt in Widerstand der Dichter mehr als drei, die meine Stimme formen, und zwar auch dann, wenn ich »ich« sage. Eigentlich ist es die Stimme von mindestens zehn jungen Dichtern, die in dem Roman zum Sprechen kommen, auch wenn in ihm nur drei Figuren auftauchen. Es ist ein Weg, damit sich diejenigen an sie erinnern können, die noch am Leben sind. 

Ich stimme mit Carlos Fuentes überein, für den der Roman die Geschichte des in Vergessenheit Geratenen ist, und demzufolge der Roman zugleich eine Geschichte erzählt, damit etwas nicht vergessen wird. Wir wissen, dass es eine offizielle Geschichte gibt, die manchmal symbolisch ist, die aber die Opfer vergisst und ihre Helden erschafft. Und die Helden sind die, die die Macht innehaben. Die Opfer, die Bürger, haben nie die Macht. Sie sind die Anti-Helden. 

Wir, die Mitglieder der Generación Comprometida, verstanden uns als die Dichter des Bösen, auf die ich mich auch mit Los poetas del mal, dem Titel des Romans beziehe. Ich hätte den Roman aber auch Die tapfere Minderheit nennen können, da man uns damals auch »la minoría audaz«, also »Die tapfere Minderheit« nannte. Denn noch bevor wir vierundzwanzig Jahre alt waren, mussten viele von uns bereits ins Exil, und außerdem schrieben wir. Das Regime war der Ansicht, dass das Land friedlich und demokratisch wäre, wenn es keine tapfere Minderheit gäbe, die das Volk vorsätzlich täusche. Das wiederholte sich dann zwanzig Jahre später, als berichtet wurde, dass in der jesuitischen katholischen Universität (UCA) junge Menschen vergiftet würden. Wir haben damals vielleicht mit unseren Gedichten, mit unseren Worten »vergiftet«, indem wir Dinge gesagt haben, die in den 50er-Jahren eine schwerwiegende Sache waren, auch wenn sie noch so leicht daherkamen. Von diesem Blickwinkel aus gesehen sind wir die Dichter des Bösen. Sicherlich kam mir hierfür der Titel des berühmten französischen Dichters Charles Baudelaire sehr entgegen, den ich mit meinem Titel Los poetas del mal [wörtlich übersetzt: »Die Dichter des Bösen«] ja auch aufgegriffen habe. 

Ich erzähle in Widerstand der Dichter von meinem Leben aus dieser Zeit, und somit erzählt auch der Roman davon. Es ist in dem Sinne ein historischer Roman, als dass wir alle in dieser Zeit gelebt haben. Wir lebten sie in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft, denn auch die Zukunft ist Geschichte. Die Geschichte ist morgen und sie ist heute und sie war gestern. Sie ist die ganze Vergangenheit, und das ist auch der Grund, weshalb ich diesen Roman geschrieben habe. 

 
Fuchs: Du veröffentlichst Gedichtbände und Romane, vorwiegend historische. Verstehst du dich eher als Lyriker oder als Romancier? Und was macht für dich den Unterschied zwischen Poesie und Prosa aus?  

Argueta: Zuallererst war ich Dichter. Ich erinnere mich daran, dass Roque Dalton zu uns gesagt hat, wir müssen so um die zwanzig Jahre alt gewesen sein, dass das Schreiben von Poesie bedeute, Ideen auszudrücken. Einigen von uns gefielen die schönen Worte, da wir von Claudia Lars, Oswaldo Escobar Velado und anderen geprägt waren, aber Roque war der Anführer, wenn es um Ideen ging, und er sagte, dass man Ideen artikulieren müsse. Aber ich wusste, dass es schwierig war, in der Poesie Ideen zur Sprache zu bringen, da die Gefahr bestand, in ein Pamphlet abzugleiten. Sogar Roque wurde beschuldigt, ein Pamphletist zu sein, aber wenn das stimmt, dann ist Roque neben Pablo Neruda der beste Dichterpamphletist Lateinamerikas. Also sagte ich mir: Okay, ich werde Ideen artikulieren. Aber ich dachte damals nie daran, ein Romanautor zu werden. Aber Gedichte schreibe ich schon seitdem ich in der vierten Klasse bin. 

 

»Ursprünglich wollte ich nie Romanautor sein, 

ich bin da so hineingeraten. Ich bin Dichter.«

 

Aber dann habe ich mich gefragt, in welcher Form ich über historische Dinge aus El Salvador sprechen kann. Ich hatte einen etwa fünfseitigen Brief von Pedro de Alvarado an Hernán Cortes entdeckt, den dieser an den König in Spanien weitergeben sollte und in dem er die Tötung der Krieger von Acajutla beschreibt. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, überlegte ich, wie es möglich ist, dass ich diesen Brief nicht kannte. Ich mit meinen achtundzwanzig Jahren, der ich gerade dabei war, meinen Abschluss in Jura zu machen und über ein Wissen verfügte, das sehr breit aufgestellt war. Was sollte ich also mit diesem Brief machen?, fragte ich mich. Ich wusste, dass ich kein Gedicht daraus machen konnte, auch wenn ich das zuerst überlegt hatte, aber Ernesto Cardenal hatte El estrecho dudoso, »Die ungewisse Meerenge« (1994) geschrieben, und ich war mir bewusst, dass ich es nicht besser als Cardenal umsetzen konnte, der die Geschichte von Nicaragua in Gedicht-Form erzählt. Also sagte ich mir, dass ich einen Roman daraus machen würde, auch wenn ich davor nie darüber nachgedacht hatte, Romane zu schreiben. Ursprünglich wollte ich nie Romanautor sein, ich bin da so hineingeraten. Ich bin Dichter. Als ich mit dem Brief von Pedro de Alvarado zu Claudia Lars kam und ihr sagte, dass ich daraus einen Gedichtband machen wolle, antwortete sie mir, dass ich verrückt sei: »Die Poesie ist eine eifersüchtige Geliebte. Du wirst sie verraten, dann wird sie dich verraten und danach wird sie dich verlassen.« 

Ich habe als Jugendlicher fünf Romane gelesen, die mir sehr gefielen. Alle fünf spielen in der Stadt, was für meinen Roman El valle de las hamacas (1970), »Das Tal der Hängematten«, sehr fruchtbar war, für den ich dann den Premio Centroamericano gewann. Aber vor allem las und hörte ich in meiner Jugend Poesie. Aber nie habe ich einen Poesie-Workshop oder einen für Romane besucht. El valle de las hamacas wurde übrigens drei Jahre später als Cien años de soledad (1967), »Hundert Jahre Einsamkeit«, von Gabriel García Márquez veröffentlicht. Cien años de soledad ist im Verlag Suramericano in Argentinien erschienen, nachdem er in Spanien abgelehnt worden war, da es der erste Roman von García Márquez gewesen ist. In demselben Verlag also, in dem auch El valle de las hamacas veröffentlicht wurde. Nachdem El valle de las hamacas veröffentlicht wurde, litt ich an einem Minderwertigkeitskomplex, da ich der Meinung war, dass ich kein Romanautor sein könne. Denn ein Romanautor erzählt die Dinge und ich fand nicht, dass ich das tat. Und dann stand da auch noch in einer argentinischen Rezension, dass man an El valle de las hamacas erkennen könne, dass ich kein Romanautor sei, da ich nichts zu sagen hätte. Ich dachte aber, dass ein Zentralamerikaner sehr wohl viel zu sagen habe, und zwar genauso viel oder sogar mehr als ein Argentinier oder ein Uruguayer, und dass somit auch ich sehr viel zu sagen hatte. Aber das Problem war wohl eher, dass dieses Buch mein erster Roman gewesen ist. An die andere Rezension erinnere ich mich nicht mehr, aber was ich noch weiß ist, dass die dritte Rezension die einzige war, in der der Rezensent schrieb, dass ihm der Roman gefallen habe – das Kürzel des Rezensenten war CJC. Ich wusste aber nicht, wer CJC war, bis mir ein Spanier in Costa Rica sagte, dass es sich bei dem Rezensenten um den spanischen Schriftsteller Camilo José Cela handelte. Das hat mich natürlich gefreut und ich dachte mir, das will etwas heißen, auch wenn ich bis dahin noch nicht viel über Camilo José Cela wusste, da er damals noch nicht den Nobelpreis gewonnen hatte. Camilo José Cela war damals aus Spanien im Exil in Argentinien gewesen und hatte daher nur seine Initialen angegeben: Camilo José Cela, CJC. 

Ich möchte, dass sich in meinen Romanen die Geschichte widerspiegelt. Die Fiktion ist hierfür ein geeignetes Mittel, und zwar ein stärkeres als das Essay, aber die Form des Romans wirft natürlich auch Probleme auf, wie es mir mit meinem letzten Roman Así la tierra como en las aguas (2018), »Wie im Gewässer, so auf Erden« ergangen ist. Dieser zentralamerikanische Krieg gegen William Walker ist so dramatisch und pompejisch. Wie kann man daraus einen Roman machen?, fragte ich mich. Aber ich wollte kein Essay schreiben, denn ich bin Autor und kein Historiker, und so schrieb ich diesen Roman. Hierfür musste ich aber das, was schon da war, erfinden, da ich die Geschichte zeigen wollte, die man weder in El Salvador noch in Guatemala kannte. Es ist also möglich, mittels eines Romans Geschichte zu machen, und meine Romane sind letztlich immer historische Romane. 

Wir Schriftsteller leben diese vergessene Geschichte erneut und zudem imaginieren wir diese. Das, was wir in der Fiktion tun, ist, dass wir die Geschichte in dem Sinne imaginieren, als dass wir die Geschichte in Hoffnung verwandeln, anstatt in der Vergangenheit zu verharren. Unsere Vergangenheit war eine traurige Vergangenheit. 

 

Fuchs: In einem Artikel hast du geschrieben, dass die salvadorianische Literatur eine Literatur ist, die sich ausgehend von einer regionalen Notwendigkeit hin zur Universalität orientiert. Wie würdest du Widerstand der Dichter zwischen den beiden Polen Regionalismus und Kosmopolitismus verorten? 

Argueta: Ich vergesse meine Herkunft nie. In dem Roman Siglo de O(g)ro (2000), »Das goldene Zeitalter der Oger«, sage ich, dass die Heimat der Poesie die Kindheit ist. Damit ich schreiben konnte, musste ich zum Beispiel John Dos Passos lesen. El Valle de las Hamacas war mein erster Roman, der von San Salvador handelt, also von einer Stadt erzählt. Dafür musste ich Manhattan Transfer lesen, einen Roman über die ökonomische Krise in Amerika. Außerdem habe ich La ciudad y los perros (1963), »Die Stadt und die Hunde« von Mario Vargas Llosa über Peru gelesen, der mir sehr gefallen hat. Und auch wenn wir gleichalt sind: Vargas Llosa war bereits in jungen Jahren ein Romanautor und hat bereits mit dreißig Jahren diesen Roman veröffentlicht. Und dann habe ich natürlich Rayuela von Julio Cortázar sowie La región más transparente, »Landschaft in klarem Licht« gelesen, der der Roman über das urbane Mexiko ist. An Rayuela hat mich fasziniert, wie Cortázar die poetische Sprache in einem Roman einsetzt. Ein Roman, der den Dualismus zwischen der argentinischen und der französischen Realität unterwandert. In El valle de las hamacas habe ich auch auf Cortázar verwiesen, auch wenn ich nicht den ganzen Namen nenne, sondern nur die Initialen J. C. Als ich Cortázar dann kennengelernt habe, habe ich ihn gefragt, ob es ihm nicht seltsam erscheine, dass ich in einem historischen Roman auf einen surrealistischen Schriftsteller wie ihn verweise. Er hat geantwortet, dass es keine Erklärung dafür brauche, da der Roman per se magisch ist und es daher nicht seltsam sei, wenn ich in meinem Roman auf einen Surrealisten verweise. Zu der Universalität: Cuzcatlán donde bate la Mar del Sur (1978), »Cuzcatlán. Am Meer des Südens« ist mein einziger Roman, der den Kontext des Krieges und den kriegerischen Konflikt in El Salvador aufgreift. Der Roman ist durch Women in love des englischen Schriftstellers D. H. Lawrence beeinflusst, auch wenn ich selbst nicht genau sagen kann, wie es sein konnte, dass ich beim Schreiben von Cuzcatlán donde bate la Mar del Sur durch einen englischen Autor des 19. Jahrhunderts beeinflusst wurde. Mit Miguels Vater, Miguel Ángel Parada, später Direktor der Universidad de El Salvador, haben wir diskutiert und er fragte danach, weshalb wir nicht universell sein können. Wir sollten national sein, sagten wir, und es so machen, wie Roque über sein Land spricht. Aber ich entgegnete ihm, dass wir eigentlich universeller schreiben sollten, aber dies nicht möglich sei, da wir aus einem kleinen Land kommen. Miguel [Parada] entgegnete jedoch, und zwar sehr kritisch, dass es keinen Unterschied zwischen Universalität und Regionalität gebe. Das Universelle könne in jedem Land entstehen, wenn man mit der Welt kommuniziere. Damals gab es jedoch noch kein Internet und es war für uns nur schwer vorstellbar, wie man mit der Welt kommunizieren konnte. Die Möglichkeiten waren damals auf das Telefon, das Telegramm usw. beschränkt. 

 

Fuchs: Inwiefern stellt die Literatur für dich einen politischen Akt, eine politische Handlung dar? Und inwiefern ist dein Schreiben konkret von dem Konzept der Littérature engagée von Jean-Paul Sartre beeinflusst? Also einer Literatur, die sich aktiv zu der Welt in Beziehung setzt und einen bestimmten gesellschaftlichen Zweck erfüllt?  

Argueta: Wir, die Dichter der Generación Comprometida, haben damals die engagierte Literatur in El Salvador entwickelt. Und von dem Augenblick an, als uns Ítalo López Vallecillos, damals ein 19-jähriger Poet und Journalist, den Namen Generación Comprometida gegeben hat, nannten wir uns so: die Generación Comprometida, also die engagierte Generation. Neben mir, Ítalo und Roque gab es natürlich auch noch andere wie Otto René Castillo etwa, ein Guatemalteke. 

 

»Wer sich als Oppositioneller kenntlich machte, musste sterben. 

Es gab kein Exil und keine Gefängnisse mehr. Es gab die Verschwundenen.« 

 

Für uns war die Literatur eine moralische Mission. Ethik und Ästhetik sind dasselbe, sagten wir damals. Die Literatur ist ein sozialer Akt. Das war auch die Auffassung von Miguel Ángel Asturias. Derjenige, der die engagierte Literatur nach El Salvador brachte, war der Dichter und Journalist Ítalo López Vallecios, der dank eines Stipendiums ein Jahr in Spanien verbrachte, wenn auch in einem faschistischen Spanien. Aber da er in Europa war, trat er in den Austausch und brachte den Terminus »engagierte Literatur« von Jean-Paul Sartre nach El Salvador. Und ja, wir dachten, wir seien engagiert, auch wenn wir hierfür nichts weiter als das Wort hatten. Wir hatten keine Macht, nur das Wort, das wir gegen eine omnipräsente Macht einsetzten, die absolutistisch und autoritär war, woraufhin unser Engagement noch größer wurde. Und danach verschlimmerte sich alles noch mehr. Viele von uns mussten ins Exil, aber danach gab es so etwas wie ein Exil überhaupt nicht mehr. Wer sich als Oppositioneller kenntlich machte, musste sterben. Es gab kein Exil und keine Gefängnisse mehr. Es gab die Verschwundenen. Wir hatten Glück. 

Ich sage manchmal in einem Roman, und zwar mit diesem Humor, den ich immer wieder in meinen Romanen an den Tag lege, dass für uns mit zweiundzwanzig Jahren die Flitterwochen zu Ende waren; es kam uns damals so vor, als befänden wir uns in den Flitterwochen. Sie haben unsere Texte in allen Medien veröffentlicht, über die wir uns auch ausgetauscht haben. Ich war zwar aus der Provinz, aber wir haben über diejenigen miteinander kommuniziert, die unsere Texte in den Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten. Damals, in dieser Flitterwochenzeit, in der wir Preise gewannen und hierdurch die erwachsenen Schriftsteller besiegten, obwohl wir noch sehr jung waren. Wir waren die kleinen Könige, die kleinen Prinzen der Literatur, die wir noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt waren. Wir haben die Älteren einfach links liegen gelassen, auch wenn man uns manchmal sagte, dass sie uns nicht respektieren würden. Otto René Castillo hat ein berühmtes Gedicht mit dem Titel Intelectuales apolíticos, »unpolitische Intellektuelle« geschrieben. Wir haben es geschafft, uns selbst davon zu überzeugen, dass wir mit dem Wort etwas erschaffen mussten, denn das Buch ist konstruktiv. 

 

Parada: Siehst du dich in deinem Roman Widerstand der Dichter selbst widergespiegelt? 

Argueta: Natürlich. Ich bin all die Dichter und alle Dichter sind in mir. Da sind Roberto Armijo, Roque Dalton, Miguel Parada, da ist Otto René Castillo, Alfonso Quijada Urías. Denn die Ideen, die ich in Widerstand der Dichter schildere, sind Ideen, über die auch wir uns unterhalten und die wir gemeinsam durchlebt haben. Wir haben zusammen gelebt. Wir waren jeden Tag zusammen und haben diskutiert. Dies war der Ausgangspunkt für das Schreiben des Romans Widerstand der Dichter. Zuerst hatte ich vor, einen autobiografischen Roman zu schreiben, aber dann wurde mir klar, dass es nicht nur mich gab, Manlio Argueta, sondern uns alle. Von dieser Perspektive aus gesehen, der Perspektive eines Romanautors, kann ich sagen, dass wir alle, all die erwähnten Dichter, in dem Roman enthalten sind. Mit den Namen der drei Protagonisten Henri Michó, Rubén Asturias und Pablo Vallejo beziehe ich mich jedoch auch indirekt auf Rubén Darío, Miguel Ángel Asturias und Pablo Neruda. 

 

»Vallejo […] ist der Dichter des Blutes. Er ist der, der das Leiden, die Vertriebenen, die Unbekannten, die Vergessenen und die vergessene Geschichte deutet. Daher mochten wir Vallejo.« 

 

Man hat uns in Zentralamerika »Vallejitos« genannt, nach dem peruanischen Dichter César Vallejo, denn wir salvadorianischen Dichter stammten aus der Unterschicht. Wir blieben im Hintergrund, im Gegensatz zu den nicaraguanischen Dichtern, die von England beeinflusst waren, sich jedoch auch auf El Salvador bezogen. Wir waren in unserer Literatur nicht von der englischen Literatur beeinflusst, sondern allen voran von Pablo Neruda und García Lorca. Später, als wir etwa zwanzig, einundzwanzig Jahre alt waren, nannten wir uns »Nerudianer«. Von César Vallejo besaßen wir zunächst keine Bücher, aber dann kam durch Otto René Castillo, einen Dichter aus Guatemala, der in El Salvador im Exil war, das Buch Poesía completa, »Die gesamten Gedichte«, von César Vallejo dann doch noch zu uns. Seitdem nannten wir uns »Vallejianos«. Die eigentliche salvadorianische Art zu Schreiben stand eher in der Tradition von Vallejo als in der von Pablo Neruda oder García Lorca. Der Peruaner Vallejo ist der Dichter des Blutes. Er ist der, der das Leiden, die Vertriebenen, die Unbekannten, die Vergessenen und die vergessene Geschichte deutet. Daher mochten wir Vallejo. Danach verbesserte Roque Dalton seine Poesie, denn er blieb weiterhin stark von Neruda beeinflusst, als er die französische Poesie, insbesondere Antoine Saint-Exupéry entdeckte. Roque Dalton verliehen sie keine Preise, im Gegensatz zu uns, denn die, die entschieden, wer die Preise erhielt, waren die Älteren, und für diese war Roque Daltons Poesie viel zu subversiv. Wir, die wir »schöne Poesie« schrieben, gewannen die Preise. Nachdem Roque den Dichter Michon entdeckt hatte, konnte man eine Entwicklung hin zu einer Poesie von großer Qualität beobachten. Ich denke, dass sie Angst vor seinen Ideen hatten. Wenn man in Lateinamerika einen Dichter erwähnte, erwähnte man Roque Dalton nicht. Man führt andere an. Aber Roque Dalton war viel bedeutsamer als viele Dichter aus Uruguay, Argentinien, Mexiko oder Chile. Aber Roque Dalton ist kontrovers und ihn zu interpretieren ist nicht leicht. Es gibt zum Beispiel eine Anthologie über Roque Dalton des Uruguayers Benedetti, der es aber nicht wagte – bei allem Respekt, ich habe Mario sehr gern gehabt –, einen Prolog voranzustellen, da dies bedeutet hätte, sich mit den Ideen von Roque Dalton zu solidarisieren. James Iffland, Professor an der Universität von Boston, der ein wunderbare Studie über Roque Dalton verfasst hat [Para llegar a Roque Dalton (2022), »Eine Annäherung an Roque Dalton«], weiß, dass man, wenn man Roque Dalton politisch oder poetisch interpretiert, gewissermaßen dessen Weltsicht übernimmt, indem man sich hierdurch mit dem identifiziert, was Roque Dalton getan und gesagt hat, und somit dessen Position als Essayist übernimmt. Der Essayist lügt nicht, während wir Romanautoren wahre Unwahrheiten sagen, wie Vargas Llosa sagte, wobei natürlich das Wort »Unwahrheit«, beziehungsweise »Lüge«, in Bezug auf einen Schriftsteller nicht wirklich zutrifft.  Aber ja, indem wir Fiktion erschaffen, lügen wir auch, aber mit der Lüge sagen wir Wahrheiten und eben das ist der historische Roman. 

 

Fuchs: Wenn du den jungen Autoren einen Rat geben müsstest, welcher wäre das? 

Argueta: Ich habe früher Lyrik-Kurse in Costa Rica gegeben, die immer sehr einfach gehalten waren und vielleicht zweimal in der Woche stattfanden. Diese Kurse konnte ich nicht hier, an der Universität in El Salvador geben, da die Universität es mir nicht erlaubte. Ich fragte die jungen Autoren immer als Erstes, was sie gelesen hatten, und meistens haben sie mir geantwortet, dass sie nicht lesen würden, da sie sich nicht beeinflussen lassen und sie selbst sein wollten. So würden sie überhaupt nichts tun, sagte ich ihnen daraufhin. Ich sagte ihnen, dass sie lesen sollten, woraufhin sie, mit ihren rund achtzehn Jahren, mir abermals erwiderten: »Nein, wir wollen uns nicht beeinflussen lassen.« Ich sagte ihnen jedoch, dass sie lesen müssten, und gab ihnen Kopien von Gedichten Vallejos, García Lorcas und Nerudas, aber nicht die politischen, sondern die Liebesgedichte aus Veinte poemas de amor y una canción desesperada (1977), »Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung«, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie sie sich als Dichter entwickeln könnten. Und ich freue mich sehr darüber, dass viele von ihnen, die für mich immer noch die jungen Dichter sind, die sie damals waren, heute gestandene Dichter sind, die in Costa Rica und anderswo Preise erhalten. 

 

»Die Poesie kommt aus dem Blut, was bedeutet, dass sie von innen kommt. Während du für den Roman die Welt […] kennen musst.« 

 

Ich empfehle also dem jungen Schriftsteller und insbesondere dem jungen Dichter, dass er, wenn er schreiben will, sehr viel Lyrik lesen muss. Denn die Poesie ist schwieriger zu bewältigen. Der Roman erzählt. Natürlich gibt es auch hier die Sprache, das Maliziöse, den Stil, die Syntax, aber der Roman erzählt von Dingen. Die Poesie aber kommt aus dem Blut, sie kommt von innen. Wohingegen du für den Roman die Welt, Personen, den Bus kennen musst. Der Romanautor muss leben. Der Dichter hingegen kann auch schreiben, wenn er eingeschlossen ist. Roque hat etwas anderes gesagt, aber das war sein Stil, seine Welt. Mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren waren wir der Meinung, dass die Poesie Dinge und keine Ideen transportieren solle. Aber ihm zufolge verwendeten wir schöne Worte. Er begann sich all das zu fragen, da er französische Poesie las, vor allem Michon. 

Was bedeutete es, dass wir uns »Die tapfere Minderheit« nannten? Nun, »Die tapfere Minderheit«, das waren die Dichter, die mit ihren Worten den Frieden im Land unterwanderten, jedoch ohne Waffengewalt; wir hätten nicht einmal eine Spielzeugpistole in die Hand genommen. Es war pure Poesie, pures Wort. Er sagte den Jugendlichen: Wenn ihr schreiben wollt, dann bemächtigt euch des Wortes. Und sich des Wortes zu bemächtigen, bedeutet zu lesen. Es ist wie ein Chip, ein Mikrochip. Wie die Nobelpreisträgerin Rita Levi-Montalcini es formuliert hat: Das Gehirn müsse mit Dingen angefüllt werden, um danach etwas über diese aussagen zu können. Also ist es egoistisch, wenn du dich mit Dingen füllst und nicht schreibst. Deshalb lest, aber wenn ihr auch schreiben könnt, ist es viel besser. Die, die diesen Mikrochip in ihren Köpfen haben, ich sage dies natürlich etwas im Scherz, sind keine Egoisten, denn das, was sie in sich tragen, geben sie an andere weiter. Das ist mein Rat: Zu lesen und zu lesen, vor allem Poesie, und die Romane der Weltliteratur natürlich auch. Die vier Romane, die mich faszinierten, waren Die Elenden von Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, Die Brüder Karamasow und Schuld und Sühne. Damals gab es keinen Fernseher und kein Internet. Also las ich diese Romane wieder und wieder, vielleicht zehnmal, denn es waren die einzigen Bücher, die mir zur Verfügung standen. Ich konnte keine weiteren Bücher in San Miguel kaufen. Ich hatte das Glück, in die Bibliothek meines Onkels gehen zu können, der ein großer Leser und Mathematiker war. So wie Rubén Darío die Möglichkeit hatte, in die Bibliotéca de los Jesuitas zu gehen. In San Miguel, das damals noch im Höhlenmenschzeitalter war: Wer hätte so etwas wie Readers Digest oder den Roman Die Brüder Karamasow lesen können? Mein Rat ist also zu lesen und zu lesen.  

 

Das vollständige Video-Interview mit Manlio Argueta wird zudem auf YouTube veröffentlicht. 

Hinweis: Das gesprochene Wort wurde zugunsten der besseren Lesbarkeit leicht abgeändert. Zudem wurden kleinere Auslassungen und Umstellung in Absprache mit dem Autor vorgenommen. 

Interview aus dem Spanischen übersetzt und editiert von Jana Fuchs und Miguel Parada. 

Auszüge aus dem Interview, Vervielfältigung und dergleichen sind nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch Manlio Argueta, Miguel Parada und Jana Fuchs gestattet.